Text: Säm Wagner, 23. Juni 2020

Liam weiß natürlich, wie es geht. Wie er seine Ultras ganz schnell um den Finger wickelt. Zwei Dinge: Wenn Liam seinem Unplugged-Publikum gleich nach dem ersten Song („Wall of Glass“) mit dem Satz „It’s lovely to be in Hull“ Honig ums Maul schmiert, dann weiß der geneigte Fan der Gallagher-Brüder natürlich, auf was Liam hier Bezug nimmt. Sein (von Liam) verhasster Bruder Noel bezeichnete das Städtchen, in dem Liam seine Unplugged-Show aufnahm, noch vor zwei Jahren als „fucking shithole“. Liam weiß natürlich, wie er seine geneigten Fans oben in Yorkshire um den Finger wickelt.

Zweitens, und das ist natürlich auch so ein wunderbarer Seitenhieb gegen Noel: Liam spielt in seinem natürlich von Oasis-Songs gespickten Unplugged-Set den „Sad Song“. Die wunderbare Ballade schrieb Noel einst, damit sie Liam für Oasis einsingt. Nachdem er Liams Version hörte, nahm er den Song dann doch noch selbst auf. Erschienen ist „Sad Song“ dann nur auf der Vinyl-Version von „Definitely Maybe“ (und später auf Reissue des Albums). Bis heute feiern Fans den Song aber als zu Unrecht unterschätzte Oasis-Perle. Liam verhilft dem „Sad Song“ jetzt zu seinem verspäteten Ruhm – mit seiner Stimme. Klar, solche Spielchen gehören bei Liam Gallagher live dazu. Genauso wie eben auch klar ist, dass seine Shows (Unplugged oder vor allem auch verstärkt) zu mindestens 50 Prozent aus Oasis-Gassenhauern bestehen müssen. Wobei: Neulich in München, kurz vor Corona, da bewies Liam sehr wohl, dass seine mitgereisten Ultras längst auch beim Solo-Repertoire textsicher mitschreien und Biere in die Luft schmeißen können. Es muss ja auch weitergehen. Irgendwie.

Zurück zu Liams „MTV Unplugged“-Album. Klar, das schnoddrige Großmaul muss hier Stimme zeigen. Kriegt er auch hin. Liam hat in den vergangenen Jahren wohl Gesangsunterricht genommen. Gegen Ende der Oasis-Zeit war ja leider oft erschreckend, was er seinem Publikum von der Bühne herunter entgegenkrakelte. Doch Oasis sind längst passé. Und wer hätte das gedacht, dass Liam nach dem Oasis-Split der erfolgreichere der Gallagher-Brüder sein wird? Der es auch noch knapp 30 Jahre nach der Oasis-Gründung schafft, Charts anzuführen und Stadien auszuverkaufen (in England natürlich).

Aber trotzdem muss man festhalten: Unplugged fehlt Liam der Dampf. Orchester und Sängerinnen im Hintergrund hin oder her. Liam (und zuvor Oasis) wirkten als Dampframme. Laut, wild, oft wunderbar unkontrollierbar. „MTV Unplugged“ kann man sich schön kontrolliert nebenbei im Wohnzimmer anhören. Volle Bierbecher wird dort keiner gleich vor Freude in die Luft schmeißen. Wer Liam gerne in Höchstform erleben will, dem empfehle ich dagegen das Live-Bootleg zu seinem letztjährigen Glastonbury-Auftritt. Biblical!

VÖ: 12. Juni 2020 via Warner Bros. Records