Text: Julian Neckermann, 14. November 2017

Da kommt ein großer, schwarzer Vogel geflogen. Und zwar ein ganz Kapitaler – direkt aus Wien. Vor mir liegt das Solo-Debüt von Paul Plut. Ein Schnauzbärtiger, dessen Alter man beim besten Willen nicht benennen kann; der schon zu viel gesehen zu haben scheint. Neunundzwanzig ist er, zumindest seine sterbliche Hülle – seine Stimme klingt aber wie die eines Mannes, der schon viele Jahre auf diesem Gräberfeld, das wir Erde nennen, wandelt. Der Name ist einigen vielleicht in Verbindung mit der Deutschpop-Band Viech oder der Bluesrock-Formation Marta untergekommen – zumindest in der österreichischen und der süddeutschen Musiklandschaft.

Nun also das erste Werk allein und damit wird er – ich würde es mir wirklich wünschen – wohl dann auch ein größeres Publikum erreichen. So „alpin“ das Konzept (wenn man es so nennen will) der Musik dann auch ist, die Archaik Pluts‘ Tonkunst ist ein Kommentar der Stunde: In Städten entfremden sich ohnehin schon Fremde auch noch von sich selbst, indem sie ihr Leben in kleine Geräte speisen und ihre Verantwortung gegenüber einer anonymen Masse abgeben – sie werden Bilder von Bildern, schon längst wandelnde Tote, die ihr letztes bisschen Natürlichkeit in Form eines ausscheidenden, unzulänglichen Körpers im elektrischen Äther aufzulösen versuchen; elektrische Signale, die ein Eigenleben entwickelt haben, Zahlenreihen aus Einsen und Nullen – vermeintlich erlebte, individuelle Erinnerungen und dann doch nur ein unendlicher, zusammenhängender, unmöglich zu entschlüsselnder Code einer solipsistischen Entität.

„Lieder vom Tanzen und Sterben“ heißt das Album und ist randgefüllt mit echten Erinnerungen, Tragödien, Artefakten eines Menschenlebens. Da knarzt ein Beichtstuhl, es tropft ein Heizungskessel, eine Bluesgitarre trauert und immer hört es sich an, als wäre das eine urklassische Spielart von Pluts Heimat, als säßen in dunklen Berghütten einsame Senner, die tagsüber das Vieh hüten und Abends nach Heu und Kuh riechend in ihren Liedern ihrer Stellung in der Welt Ausdruck verleihen. Es ist eine unmittelbare Art, das Leben und den Tod zu erfahren – zu tanzen und zu sterben. Den Takt für diese Trauermärsche ist ihnen nur zu gut aus dem Mähen, dem gleichförmigen Hin- und Herschwingen mit der Sense vertraut, dessen Rhythmik mit einer selbstgebauten Stompbox übersetzt wird und ihren Liedern als Percussion dient. Wie unwirklich muss ihnen da die Welt in den Städten vorkommen, in denen Flachlandsenner die Fleischmassen in die Schlachthöfe treibt, eine Welt, in der der Tod nahezu zwanghaft tabuisiert wird, als gehöre er nicht zum Leben? Wir wollen uns damit nicht beschäftigen, deshalb essen wir keine „Tiere“, sondern „Fleischprodukte“, als müssten sie so nur von den Bäumen gepflückt werden; deshalb „adden“ und „deleten“ wir „Menschen“, haben wir doch auch hier ein nicht überschaubares Angebot an Produkten.

Ist das romantisierend? Sicherlich. Um was es mir hierbei ging, war, es irgendwie zu versuchen rüberzubringen, welche Gedanken und Gefühle die Musik Pluts bei mir auslöst. Das tut sie, weil sie sie es schafft zutiefst authentisch zu klingen, was nicht nur den vorher erwähnten Feldaufnahmen geschuldet ist. Es ist auch die etwas nach Nick Cave klingende Stimme, die Texte wieder gibt, die man sich so nicht einfach mal aus dem Ärmel schüttelt – was Plut auch von anderen Importen aus Österreich erfreulicherweise unterscheidet, sodass man ihn nicht nur als ein Phänomen des oft bemühten Begriffes des Austropop ansehen kann, der, so scheint es mir, nicht mehr Prädikat für ein wertvolles Gut, sondern eher Degradierung zur Schunkelmusik bedeutet. Paul Pluts Gospel (so treffend hat Kollege Karl Fluch, die Musik hier bezeichnet) lädt uns ein, uns einem Fiebertraum hinzugeben, uns von den spirituellen Mantras hypnotisieren zu lassen, einem kollektiven Gemeinschafsgefühl mit allem Leben auf der Welt so nahe wie möglich zu kommen, indem sie Urängste ansprechen, eine Verbindung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Leben und Tod herstellen. „Tod“, „Teufel“ und „Traum“ sind Schlagwörter, die bei Pluts Lyrik immer wieder fallen. Aber auch „Tanz“ ist eins. Und so folgt nach dem Trauermarsch ein Leichenschmaus und der verhangene Himmel lichtet sich etwas und wir blinzeln einem einzelnen Sonnenstrahl entgegen. Alles was wir haben ist das Gewicht unserer Leidenschaften im zeitlosen Jetzt-Werden; alles was Zeit ist, sind lebende Körper, die in gegenseitiger Anziehung Räume formen – bis sie sich zur Singularität krümmen und zum großartigen, schmerzfreien Nichts vereinen.

War das etwas zu pathetisch? Sicherlich. Aber das muss das Album erstmal schaffen: Dass es den Zuhörer wahrlich in einen Maelstrom aus heimeligen Kindheitserinnerungen und nagenden Zukunftsängsten wirft; das nicht einfach mit dem letzten Song endet, sondern den Zuhörer mit einem Gefühl – und sei es nur ein Funke – entlässt, sich des Lebens wieder bewusster zu werden.

17/11/2017 (AT) Graz – Orpheum (Releaseshow)

VÖ: 17. November 2017 via Phonotron