Text: Michael Smosarski, 08. November 2016

Du kennst Shirley Collins nicht? Absolut verständlich – und sehr schade. Denn die über 80-jährige Singer/Songwriterin hat in ihrer Karriere ein großes Stück Pop- und Folkmusik-Geschichte geprägt. Gemeinsam mit dem berühmten Musikhistoriker Alan Lomax ergründete die Engländerin in den frühen 50er Jahren die Vergangenheit US-amerikanischer Musik und ihrer europäischen Wurzeln. Das Ergebnis dieser Exkursionen nahm sie mit nach Großbritannien und avancierte damit zum Folkstar. Es folgte eine Karriere voller kinoreifer Höhen und Tiefen, die tragisch im Verlust ihrer Stimme und langjähriger Bühnenabstinenz endete.

Jetzt, mehr als 30 Jahre nach ihrem letzten Album, ist sie mit „Lodestar“ zurückgekehrt. Und das Resultat ist auch heute noch faszinierend! Mit einer brüchigen Stimme, die eher erzählt als singt, führt Collins durch Folkkompositionen, die ebenso sehr nach Americana wie Minnesang klingen. Zu letzterem Eindruck trägt auch das abseitige, längst vergessene mittelalterliche Instrumentarium bei, das die Gitarre vielfach ergänzt.

Das erstaunlichste aber ist, wie zeitlos die Songs wirken, frei von Hippie-Mief oder Mittelalter-Romantisierung – ganz so als habe Shirley Collins an irgendeiner Stelle ihrer langen, beeindruckenden Karriere eine Abzweigung genommen, die sie aus dem Hier und Jetzt hinausgeführt hat, geradewegs hinein in die Annalen der Musikgeschichte.

Das Album „Lodestar“ erschien am 04. November via Domino Records.