Text: Julian Tröndle, 06. November 2020

Verarbeitet eine Band, die zuvor für verspielten Folk-Pop bekannt war, die Themen Tod und Trauer im Rahmen eines Konzeptalbums, wittert man intuitiv eine Tragödie innerhalb des Bandgefüges; eine verunfallte Mutter etwa oder die Krebsdiagnose eines guten Freundes. Im Falle des Londoner Kollektivs Tunng stellt die Auseinandersetzung mit dem existenziellen Stoff aber ausnahmsweise keine Bewältigungsstrategie, sondern eher ein präventives Unternehmen dar, welches vom Debütroman „Death Is The Thing With Feathers“ (2015) des Britischen Autoren Max Porter angestoßen wurde. Darin wird ein Vater und seine beiden Söhne von einer zwielichtigen Krähe heimgesucht, nachdem die Mutter beziehungsweise Ehefrau urplötzlich aus ihren Leben gerissen wurde. Erst am Ende des Romans, nachdem das Tier seinen Beitrag zur Trauerarbeit gleistet zu haben glaubt, verabschiedet es sich unvermittelt mit den Worten: „Permission to leave, I’m done.“ Das Buch zirkulierte eine Weile bandintern zwischen den Mitglieder*innen und so entspann sich langsam ein nachhaltig schwelender Diskurs zum Thema Trauer, der schließlich in der Idee zum Konzeptalbum „Dead Club“ aufging.

Der Song „Death Is The New Sex“ kann hierbei als Schlüsselstück und albumübergreifende Ausgangsthese verstanden werden: In spätmodernen Gesellschaften westlicher Prägung, in der das Streben nach ewiger Jugend als unterschwelliger Imperativ das Leben der Individuen lenkt, habe sich die Prüderie von der Ebene des Körpers auf die der Kreatürlichkeit verlagert; nicht mehr der Sex werde heute tabuisiert, sondern der Gedanke an die eigene Endlichkeit. Forciert durch den sukzessiven Bedeutungsverlust der Religiosität und seiner transzendentalen Verheißungen klafft hier folglich eine diskursive Lücke, die sich in einer umfassenden Inkompetenz ausdrückt: Niemand wisse mehr über das Sterben zu sprechen, geschweige denn adäquat zu trauern oder dem eigenen Tod aufgeklärt entgegenzublicken.

Tunng wählen nun, um sich den Implikationen ihrer Gesellschaftsanalyse künstlerisch anzunähern, einen für Pop-Verhältnisse seltsam akademischen Ansatz: Noch vor Beginn des eigentlichen Songwriting-Prozesses führten sie Interviews mit verschiedensten Sterbe-Expert*innen, welche im Vorfeld zum Release auch als Podcast-Reihe veröffentlicht wurden. Neben dem bereits genannten Autoren Max Porter, der außerdem zwei morbide Spoken-Word-Texte zum Album beisteuert („Man“ & „Woman“), standen unter anderem die forensische Anthropologin Dame Sue Black, der Philosoph A. C. Grayling sowie die Palliativmedizinerin Kathryn Mannix auf ihrer interdisziplinären Gästeliste. Fragmente dieser Interviews finden sich auch als Skits an verschiedenen Stellen des Albums wieder, wo sie als wissenschaftliche Exkurse die Lyrics assoziativ komplettieren. Zudem kommt ihnen durch Mittel akustischer Verfremdung und das perkussive Loopen einzelner Frikative punktuell auch eine musikalische Funktion zu. So wird gleich im Opener A. C. Grayling mit seiner philosophischen Perspektive auf das Phänomen Tod zitiert, bevor er sich mit dem letzten Wort in eine bodenlose Echokammer verabschiedet:

So they say to learn to die is to learn to philosophize. You get wisdom from the fact that there is nothing to fear from death and, therefore, there is nothing to fear from anything. (…) The meditation of the wise person is a meditation on life not on death. Cause death is nothing to us us us us us us…

Selbst die Musik blieb von der konzeptionellen Radikalität des Projekts nicht unbehelligt. So zieht sich konsequenterweise ein Akkordbett aus D, E, A und D als wiederkehrende Dissonanz durch die zwölf Songs. Kurzzeitig soll sogar die Idee im Raum gestanden haben, für das Album ausschließlich ausgestorbene Instrumente zu verwenden. Letztlich entschied man sich aber für das Klavier als Kernelement der Arrangements – ein oft über Generationen weitergereichtes Erbstück, dessen Tasten daher die Fingerabdrücke unzähliger Verstorbener erinnern. Wer als Ergebnis nun aber eine Art „Skeleton Tree“ oder andere düster-balladeske Piano-Meditationen vermutet, verkennt die überbordende Experimentierfreude, die den songwriterischen Ansatz von Tunng seit jeher auszeichnet.

Zwar scheint die grundsätzliche Atmosphäre auf „Dead Club“ deutlich gedämpfter als auf den Vorgängern; auf ihr collagehaftes Spiel mit Elementen aus Folk, Electronica, Samples und Field-Recordings mochte die Band trotz der existenziellen Schwere des Stoffes dennoch nicht verzichten. Es wäre daher fatal, „Dead Club“ aufgrund seines zunächst verkopft wirkenden Ansatzes als überambitionierte Fingerübung eines nerdigen Dead-Spleen-Kollektivs abzutun. Es geht Tunng nämlich in keinster Weise um die Demonstration der eigenen Cleverness. Dies bezeugt allein schon die genuine Neugier, mit der Sam Genders und Becky Jacobs ihren Podcast-Interviewpartner*innen begegnen. Und selbst die Tatsache, dass das Album trotz der ausufernden Quellenarbeit am Ende lediglich punktuelle Schlaglichter auf ein gesellschaftliches Tabuthema zu werfen vermag, kann der Band kaum ernsthaft zum Vorwurf gemacht werden. Es wäre vielmehr vermessen, an ein Werk des Pops die selben Parameter anlegen zu wollen wie an eine soziologisch-phänomenologische Abhandlung – auch wenn dieses großartige Konzeptalbum in seiner musikalischen und konzeptuellen Komplexität vermutlich sogar mehr zum Diskurs um Tod und Trauer beizutragen hat als so manche valide wissenschaftliche Studie.

VÖ: 06. November 2020 via Full Time Hobby