Text: David Maneke, 07. November 2018

Die Liebe ist eine Bestie mit vielen Gesichtern. Sie kann uns, soweit so trivial, in den Himmel fliegen lassen und mit eisiger Unerbittlichkeit auf den Boden zurückholen. Was aber passiert, wenn die Bestie außer Kontrolle gerät, haben Anoraque auf ihrem Album „Dare“ eindrucksvoll künstlerisch aufgearbeitet.

„Dare“ ist ein sehr eigenständiges Album. Anoraque kümmern sich nicht allzu sehr um Trends – Musikalisch machen sie vieles anders. Retromania spielt keine Rolle bei Anoraque, viel mehr wagt sich die Band an progressivem Gefrickel in einer Chimäre von Referenzrahmen. Nichts ist so richtig offensichtlich, aber das Erbgut von „OK Computer“ ist auch in „Dare“ enthalten. Ein Kritiker hat dem Meisterwerk Radioheads einmal attestiert, in „kitsch- und klischeefreier Emotionalität verankert“ zu sein und diesen Befund kann man ohne komplizierte Beweisführung durchaus auch „Dare“ stellen. Klar, der Vergleich ist unfair. Trotz allem darf man ahnen, dass Radiohead aus elterlicher Distanz davon schwärmen würden, wie die Kinder das Laufen anfangen.

Die musikalischen Ideen des Albums erblühen in Vielfalt, und es ist doch kein unkontrolliertes Austoben, sondern viel mehr ein ausgesprochen raffiniertes Ineinandergreifen von Rädchen auf all den vielfältigen narrativen Ebenen des Albums. Die Zeichensorten werden vermischt, die Musik illustriert den Text und umgekehrt, die gegenseitigen Zusammenhänge werden untentwirrbar. So erhält „Dare“ eine unglaubliche künstlerische Tiefe, es ist wirklich ein sehr aufwendiges Stück Musik.

Über die gesamte Länge verfolgt das Album die Erzählung von einer anfänglich stürmischen, schon bald aus dem Ruder laufenden Beziehung. Hautnah erlebt der Hörer mit, wie zwei Liebende den Ausbruch suchen und daran scheitern. Mit chirurgischer Präzision wird das Binnenverhältnis der Liebenden ausgefächert und so wird ein Prozess sichtbar; was als wütende „Wir gegen den Rest der Welt“-Story startet, endet in vollkommener gegenseitiger Enttäuschung. Spätestens mit „Wolf“ manifestiert sich die betäubte Resignation als bleibendes Gefühl. Der Song, Gustav Freytag würde Tränen des Glücks weinen, entfaltet in der Mitte des Albums die volle Tristesse der beschriebenen toxischen Beziehung. Hernach folgen immer explizitere Bebilderungen eines Verfallsprozesses von menschlichem Anstand. Wenn Sängerin Lorraine bei „Not asking for it“ Beleidigungen durch den Äther brüllt, spürt man den Kontrollverlust hautnah. Ihr sonst so irritierend zarter Gesang wird per Verzerrung in beklemmender Eindringlichkeit ins Hysterische gerissen. Das geht an die Nieren. Und das schlimmste: so abgekühlt wie sie im letzten Lied „Girlfriend“ die allerletzten Zeilen des Albums säuselt, müssen wir befürchten, dass der Point of no Return für die traurigen Liebenden überschritten wurde, und dass ihre gegenseitige Abhängigkeit sie letzten Endes mit einem sehenden und einem blinden Auge ins Verderben laufen lassen wird.

Der Albumtitel „Dare“ hat eine doppelte Logik. Einerseits wagen sich Anoraque mit ihrem allerersten Album direkt an ein Format, das aller Voraussicht nach nicht direkt für einen feurigen Hype geeignet ist. Dem darf ich dann Kraft des Kritikeramtes die uneingeschränkte Bewunderung des Autors entgegenhalten, denn das Album, sp sperrig es auch sein mag, wächst mit jedem Hören. Wirklich gespannt darf man darauf sein, wie die Band das Album live präsentieren wird.

Aber viel wichtiger: auch inhaltlich beschreibt „Dare“ ein Wagnis, mit dem wir uns vermutlich alle ein bisschen identifizieren können. Denn Anoraque machen schon auch deutlich, dass wir als liebende Menschen blöd genug sind, die ganze Scheiße für die einsamen Spitzen zu fressen. In den wenigen Höhen zahlt sich das toxische Abhängigkeitsverhältnis mal aus, Ende offen. Dem Hörer gegenüber, der qua Prägung stets auf ein gutes Ende der Geschichte hofft, ist das gemein. Aber es ist auch emotional radikal und ganz nah an dem, was vielen von uns nicht unvertraut ist: die Liebe kann uns horrenden Schaden hinzufügen.

VÖ: 09. November 2018 via Radicalis