Text: Christoph Walter, 14. August 2019

Wie schön das früher war: Da hat man irgendwann in der Intro oder sonst einem Musikmagazin von einem neuen Album seiner Lieblingsband gelesen und ist dann am Erscheinungstag, oft nach Monaten des gespannten Wartens, mit klopfendem Herzen und um 32,95 Mark ärmer vom Plattenladen nach Hause geeilt. Das, was dann aus den Boxen tönte, war manchmal eine Offenbarung, manchmal eine bittere Enttäuschung, aber immer etwas völlig Neues.

Längst vorbei sind diese Zeiten und in der Regel kennt man heute schon lange vor dem Veröffentlichungstermin (sofern der überhaupt noch eine Rolle spielt) die wesentlichen Stücke einer Neuerscheinung. So auch im Falle von Bon Ivers aktueller LP „i,i“ – zuerst wurden zweimal je zwei Songs veröffentlicht, drei Wochen vor der Erscheinung des physischen Tonträgers konnte dann überraschend der Rest gehört werden.

Ein nettes Geschenk zwar, aber auch ein kleiner Wermutstropfen, ist „i,i“ doch ein Paradebeispiel dafür, was ein in voller Länge auf einer guten Anlage gehörtes Album auch heute noch leisten kann. Justin Vernon und eine Phalanx von Kolleginnen und Kollegen treten noch verspielter und kreativer auf als zuvor und machen aus der Platte eine wunderbare Entdeckungsreise, auf der hinter jeder Weggabelung eine Überraschung wartet.

Nur: Wenn man die Songs bereits mit gedämpfter Aufmerksamkeit nebenbei auf Youtube oder sonstwo gehört hat, sind die Überraschungen eben nicht mehr ganz so überraschend, gehen die grandiose Harmonie von „Hey Ma“, der Chor und das hinreißende Piano von „U (Man Like)“ oder die satten Bläser des überraschend wuchtigen „Naeem“ fast ein wenig unter.

Dass wir uns nicht falsch verstehen: „i,i“ ist ein großer Wurf, der unbedingt angehört werden sollte. Aber nicht jetzt, sondern dann, wenn man die Schallplatte mit klopfendem Herzen nach Hause tragen kann.

20.04.2020 Berlin – Mercedes-Benz Arena

VÖ: 30. August 2019 via Jagjaguwar