Text: Bernd Skischally, 16. November 2018

Mit oder ohne Afterglow – zwischen den Kakteen ist alles superawesome: Es ist nachmittags um drei in Joshua Tree, Kalifornien. Die Wüstensonne wird schon langsam angenehm. Ein vor der Bühne gespanntes Camouflage-Segel wippt unaufgeregt im Wind und wirft seine Schatten auf Alaska Lynch. Der Filmemacher und professionelle Weirdo aus L.A. lässt, mit langer blonder Mähne unter dem beigen Cowboyhut und rotglasiger, runder Brille auf der Nase, seinen Plastiklöffel gelangweilt in einer halb geöffneten Wassermelone kreisen. Er wartet. Auf Camera.

Die Band aus Berlin represented zusammen mit Frankreichs La Femme gewissermaßen Europa auf dem Desert Daze Festival im Oktober 2017. Gerade hat das deutsche Trio seinen Soundcheck auf der Block Stage beendet. Zwei Konzerte gab es schon zuvor, abends wird an gleicher Stelle John Cale auftreten und man wird sehen, warum Noisey das Festival als Mekka für „Psych- und Garage-Rock-Extravaganza“ bezeichnet. Denn alle werden sie da stehen, beim alten Velvet-Underground-Hasen: Thurston Moore, Thee Oh Sees‘s John Dwyer, Ty Segall, Kyuss-Produzent Chris Goss, die Jungs von King Gizzard. Doch jetzt, es ist mittlerweile knapp halb vier, wundert man sich erstmal, warum plötzlich so viele Menschen vor die eben noch gemütlich anmutende Blockstage drängen. Als auch noch zwei Kamerateams hektisch herbei eilen, stellt sich tatsächlich die Frage: „Guys, are you all waiting for that Krautrockband?“ Verschwörerisches Nicken. Vorbei gedrängt an den Hunderten, rüber zum Stagemanager, gleiche Frage, andere Antwort. „I guess, they’ve heard the rumors!“ Was denn für Gerüchte? „Some people said, Iggy Pop will probably join Camera on stage.“

Haha. Wirklich. Selten so gelacht. Auch die Jungs aus Berlin lachen herzlich. Dann schnappen sie ihre Instrumente und spielen – zum Auftakt ihrer ersten mehrwöchigen Tour durch die USA – ein massives 40-Minuten-Nonstop-Set, dessen aggressive Noise- und Drone-Parts auf den ein oder anderen bekifften Geist durchaus verstörend wirken um diese Uhrzeit. Aber niemand verlässt das Schauspiel. Bis zum Schluss. Von Iggy Pop natürlich keine Spur. Bis er spätnachts, drüben auf die Moon Stage stürmt und in der nächtlichen Wüste einen wütenden Staubtornado entfacht, wie ihn dieses Festival in den sechs Jahren seit seiner Gründung noch nicht erlebt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Was das alles mit „Emotional Detox“, dem neuen, mittlerweile vierten Studioalbum von Camera zu tun hat? Sicher alles und nichts. Wenn der Wahnsinn es schafft, dass irgendwie alles möglich ist, dann ist schon viel erreicht. Und Camera haben, seitdem sie als Krautrock-Guerilla in die jüngere Musikgeschichte Berlins eingegangen sind, schon viel Wahnsinn bewiesen. Unterschätzen sollte man das nicht. Trotz abgebrochener Konzerte. Trotz personeller Querelen. Iggy Pop als Gastmusiker? So abwegig erscheint das nicht, hat man Michael Drummer, Schlagzeuger und Antreiber der Band, schon mal Backstage auf Festivals erlebt. Wie sehr Camera heute mehr denn je als eine Art Kollektiv funktionieren, bei dem ständig Leute auf und abspringen, das aber wie eine Herde wirrer Schafe zusammen gehalten wird von Drummers manischem Motorik-Beat, stellt „Emotional Detox“ wunderbar unter Beweis. Nicht nur, dass Timm Brockmann, Gründungsmitglied der Band, wieder mit an Bord ist und es somit, zusammen mit Steffen Kahles, erstmals gleich zwei hochtalentierte Synth- und Keyboard-Player gibt. Auch die harmonische Entfaltung der einzelnen Stücke ist auffallend hoch.

„Es mag paradox erscheinen, aber das neue, erweiterte Camera-Lineup bewirkt ein noch schärferes Profil der einzelnen Tracks“, heißt es dazu passend beim Camera-Label „Bureau B“. „Da Drummer seine Schläge nicht behutsam getropft, sondern wie mit der Nagelpistole auf uns einprasseln lässt, gibt er einen stabilen Rahmen vor, der den anderen Musikern noch mehr Freiheit gewährt, sich selbst zu entfalten. Ein einzelner Stein, in einen Teich geworfen, erzeugt konzentrische Wellen, die sich ins Unendliche fortsetzen. Parallele Schwingungen. Grenzenlose Symmetrie. Eine Klanglandschaft wie eine kinematographische Dauerschleife, als würde man denselben Film wieder und wieder sehen und doch bei jedem Mal etwas Neues entdecken.“ Bingo. So fühlen sie sich an die neun neuen Tracks mit den gleichermaßen viel- und nichtssagend klingenden Namen wie „Ciao Cacao“, „Himmelhilf“, „Pacific One“ und „Nicenstein“. Irgendwo mittendrin zitieren die Hamburger Krautrock-Spezialisten noch Mark E. Smith und man denkt unweigerlich an diesen Drummer und Iggy fuckin Pop: „It’s not repetition. It’s discipline.“ Plus Wahnsinn!

23.11.2018 Berlin – Synästhesie Festival

VÖ: 16. November 2018 via Bureau B