Text: Julian Neckermann, 12. September 2019

Eins vorweg: Das sechste Studioalbum von Chelsea Wolfe mit dem Titel „Birth Of Violence“ ist ein gutes Stück Musik. Das fängt auch schon bei der Covergestaltung an. Hier muss ich irgendwie an Medea, die aus Rache ihre eigenen Kinder tötet, denken; bei den Griechen ging es ja ohnehin immer recht archaisch zu – die Orestie ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein Gewaltakt weitere Gewalt gebiert, die sich dann, fast wie ein Fluch, auf das Schicksal mehrerer Generationen auswirkt.

Und von den Griechen komme ich dann irgendwie direkt, auch dem Titel geschuldet, zu Nietzsches „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Diese Assoziation will ich bemühen, um zu erläutern, warum mich das neueste Werk von Wolfe nicht restlos überzeugt zurücklässt, wie sie das durchaus auf ihren Vorgängeralben, allen voran „Abyss“, geschafft hat.

Verknappt ziele ich hier auf das Begriffspaar Apollinisch-dionysisch ab. „Birth Of Violence“ ist kompositorisch eine unglaublich runde Sache und spannt eher wieder einen Bogen zu den ersten Alben, vor allem „Apokalypsis“ und „Pain is Beauty“ und hebt hier vor allem die folkigen Aspekte heraus, während sie die Anteile an Gothic, Doom und Elektronica stark zurückschraubt, sodass ein astreines Americana-Album dabei herauskommt. Das Ganze ist mir aber etwas zu rund, zu apollinisch. Was mich bei früheren Werken so gepackt hat war, dass diese mit einer extrem bedrohlichen, lebensfeindlichen Atmosphäre daherkommen; sie sind dionysisch im Sinne, dass sie so unberechenbar, rau, unfreundlich, misanthropisch (man denke nur an „Movie Screens“ auf „Apokalypsis“) und in ihrer zum Teil punkigen Attitüde auch chaotisch sind.

Um noch einen viel gebrauchten Begriff zu bemühen: Ich habe hier bei den Vorgängerplatten das Gefühl, etwas wirklich „Authentisches“ zu hören. Ich möchte Chelsea Wolfe dabei gar nicht absprechen, dass „Birth Of Violence“ womöglich wieder ein sehr persönliches Album geworden ist, dass sie mit den Stücken viel von sich als Mensch preisgibt. Aber für mich fühlt es sich nicht so an, was daran liegt, dass es sich eben wie eine nett gemachte Folk/Americana-Platte anhört, der nicht mehr so eindeutig der Stempel „Chelsea Wolfe“ aufgeprägt ist. Ein anderer Aspekt ist, dass mich „Apokalypsis“ oder „Abyss“ in ihrer Unbequemlichkeit immer wieder geschockt haben, indem sie mich aus dem einfachen „Zuhören“ gerissen und ich ob ihrer Eindringlichkeit in ein „Reinhören“ gezwungen wurde. „Birth Of Violence“ dagegen kann auch gut im Hintergrund laufen.

Das klingt jetzt alles böser als es gemeint ist. Das apollinisch-dionysische Prinzip verhält sich aber wie Licht und Schatten: Das eine bedingt das andere und umgekehrt. Wenn „Carrion Flowers“ und „Dragged Out“ einen schwarzen Mantel um mich legen und ich jede Hoffnung fahren lasse, vielleicht schiebe ich dann zwischendurch auch „Birth Of Violence“ ein – denn der Stimme von Frau Wolfe lausche ich immer sehr gerne, auch wenn die Musik im Vergleich zu meinen favorisierten früheren Alben etwas gefälliger ausfällt.

VÖ: 13. September 2019 via Sargent House