Text: Christian Selzer, 05. November 2021

Ist das noch Musik? Oder Gewalt? Den Status als anstrengendste Band Deutschlands haben die Berliner Gewalt längst sicher, wenn dieser Tage das Debütalbum „Paradies” erscheint. Gewalt, das sind Jasmin Rilke, Helen Henfling, Patrick Wagner und der Drumcomputer LMMS. Ihr Sound kombiniert Störgeräusche mit rohen Beats, ruppigen Riffs und nihilistischen Lyrics zu einer Art Elektro-Noise-Punk. Was bleibt, sind blutende Ohren. Und ein Publikum, dem die Irritation oft ins Gesicht geschrieben steht.

Lange war unklar, ob überhaupt jemals ein Gewalt-Album in die Plattenläden kommen würde. Jetzt also der Rundumschlag: Neben brandneuen Songs enthält die Doppel-LP auch sämtliche Singles der letzten fünf Jahre und ein Buch, das die Entstehungsgeschichte erzählt. Etwas „Ausuferndes und Überwältigendes” habe man schaffen wollen, so die Band. Mission geglückt, möchte man antworten.

Selbsthass, Weltekel und die Unentrinnbarkeit unserer Existenz bleiben die Triebfedern von Gewalt. Gesellschaftliche und innere Missstände werden auf „Paradies” schonungslos seziert und ins Schaufenster gepackt. „Gier” stampft los mit einem Industrial-Beat, der so klingt, als würde eine Drummachine auf dem Warehouse-Rave mit der Bohrmaschine gequält werden. Dazu spuckt Wagner seine Desillusion im gewohnten Staccato aus, prangert das Elend laut an und macht es so immerhin tanzbar. „Stirb es gleich” setzt mit aller existenzialistischen Härte den K.O.-Treffer gegen die herrschende Doppelmoral und lässt uns anschließend paralysiert in der Gosse liegen. Alles was an Resthoffnung übrigbleibt, wird von den kratzbürstigen Gitarren weggeschmirgelt. „Manchmal wage ich mich unter Leute” ist eine Selbstentblößung, ein verzweifelter Schrei gegen den Lärm, um den verlässlich wiederkehrenden Schmerz erträglich zu machen.

Es gibt kaum eine Band, die sich bei ihren Selbstreflexionen so tief in die Seele blicken lässt wie Gewalt. „Paradies” ist eine schonungslose Abrechnung mit sich selbst, dem Scheitern, den Bedingungen, die uns zu den gefühlskalten Wesen machen, die wir sind. In dieser Wucht und Wahrhaftigkeit vorgetragen ist das manchmal schwer zu ertragen. Und macht Gewalt genau deshalb mit zum Faszinierendsten, was die hiesige Musiklandschaft zu bieten hat.

06.11.2021 Berlin – Zukunft am Ostkreuz

VÖ: 05. November 2021 via Clouds Hill