Text: Oliver Schröder, 18. Januar 2021

„It’s More Fun to Compute“: Für die meisten Künstler ist ein Befreiungsschlag, wenn sie sich von selbstauferlegten Dogmen lösen, strenge Regeln aufweichen und ihre Ideen ohne Limits ausleben können. Irgendwann ist jedes ursprünglich mal hervorragende Alleinstellungsmerkmal rundgelutscht. So auch bei den Grandbrothers, die auf ihrem dritten Album das Diktum aufbrechen, das jeder Ton in dem Moment entstehen muss, in dem er gehört wird.

Für „All the Unknown“ bedeutet das eine variablere Stückeauswahl, die aber immer noch zu 100% nach Grandbrothers klingt. Ein kleiner Preis muss für die Öffnung allerdings bezahlt werden, denn wer die beiden schon einmal live erleben konnte, sah nicht nur einen faszinierendem musikalischen Versuchsaufbau beim Funktionieren zu, sondern vor allem der sehr aufeinander fokussierten, fast schon intimen Interaktion der beiden Probanden. Auf „All the Unknown“ geht dieses musikalische Kammerspiel zumindest ein stückweit verloren. Und genau um diese minimale Länge rücken Grandbrothers näher an gegenwärtige Trends, sei es Neoklassik, kraftwerkscher Technopop oder gar leicht krautige Psychedelik.

Dass das kein Verlust sein muss, lässt sich schon bei „Howth“ feststellen, dem ersten Stück des Albums. Dem typischen Aufbau nach Grandbrothers-Manier aus flirrenden Klaviersaiten, Beats und perlenden Melodien unterliegt ein zunächst kleiner, atmosphärisch hallender Raum, der sich im Laufe des Stücks zu einer Kathedrale auftürmt. Diese Ausweitung ist das bemerkenswerteste neue Feature der Grandbrothers. Jetzt zeigt sich erst recht, dass die Musik der beiden viel mehr zu bieten hat, als einen Konzertflügel plus technische Gimmicks. In der kybernetischen Brust aus Samples, Loops und Verfremdungen schlägt immer noch ein menschliches Herz, das den Hörer nach wie vor tief berührt. Jetzt schlägt es nur etwas komplexer.

„Das meiste wollten wir (…) zusammen im Raum spielen und spüren. Dass es Momente gibt, die einen packen. Wenn wir das gemeinsam machen, können wir besser aufeinander eingehen.“, sagt Pianist Erol Sarp über den Aufnahmeprozess. Und da ist er wieder: Der klare, achtsame Fokus auf den Menschen, der einem gegenüber sitzt. Mittlerweile können sich die beiden sogar vorstellen, andere Musiker mit in diesen Kreis zu holen. „All the Unknown“ ist also vielleicht das große Aufbruchsalbum zum Jahresanfang, das den Hörer ermutigt, neue Wege zu gehen. Und hoffentlich bald auch wieder zu Konzerten der Grandbrothers.

VÖ: 15. Januar 2021 via Cityslang