Text: Alex Schulz, 15. Juli 2022

Ein Vierteljahrhundert nach Bandgründung, sechs Alben nach “Turn On The Bright Lights” beweisen Interpol, dass sie immer noch unnachahmbar für sich selbst stehen. Die Platte Nummer Sieben, „The Other Side of Make-Believe“, befindet sich wie immer im Spannungsfeld des Spiels mit Vertrautheit und Evolution.

Angefangen schon mit dem Albumcover, das sich der vertraut-limitierten Farbpalette aus Rot, Schwarz, Weiß, und nun vor allem Grau, bedient. Ähnlich wie — an dieser Stelle sei ein kleiner Shout Out erlaubt — das sensationell schöne Interpol Gigposter von Siebdrucklegende Falk Schwalbe. Nicht minder setzt das Gefühl der Vertrautheit auch musikalisch schon beim Opener “Toni” ein. Wie auf Knopfdruck katapultieren Paul Banks, Daniel Kessler und Samuel Fogarino die Hörer:innen aufs Neue in dieses eine, markante Interpol Motiv: Einer nach dem anderen steuert die wesentlichsten Merkmale der Band bei. Zunächst Fogarinos kompromisslos präzise Drum-Schläge, wenig später Banks sonorer Gesang und dann zunehmend auch Kesslers Signature-Gitarre. Soweit, so Interpol. Im Laufe der weiteren Albumtracks schält sich nach “Toni” ungeachtet dessen ein evolutionär neuer Kern der Band heraus. Dieser wird so weit verfolgt, dass Frontmann Paul Banks das Album inzwischen mit den Worten “in music there’s always a seventh time to make a first impression” vorstellt.

Was macht also diesen neuen Kern in „The Other Side of Make-Believe“ aus? In jedem einzelnen Song sind ganz eindeutig die Grundzutaten Interpols zu erkennen — die Rezeptur wurde allerdings ein wenig geändert. War der Albumvorgänger “Marauder” beispielsweise noch von energetischem (Live-)Charakter geprägt, finden sich auf dem neuesten Streich noch ausschließlich mid-tempo Songs wieder. Eine Erklärung dafür, dass auch keine Single derart heraussticht wie noch der Track “Rover” vor vier Jahren. „The Other Side of Make-Believe“ wirkt gesamthaft ein wenig gedämpfter als bislang von der Band aus NYC bekannt. Wie durch Rauchschleier von früheren Songs entkoppelt, werden von Paul Banks leisere, weniger sonore Töne angeschlagen (“Into The Night”, “Something Changed”, “Renegade Hearts”). Melodien, wie bei “Toni”, “Fables” oder “Big Shot City” werden weniger durch Tempo-Wechsel gebrochen, sondern durchgängig durch die Songs getrieben. Dabei muss man ehrlicherweise beim ersten Hören aufpassen, nicht abzuschalten. Doch alleine die wie immer genialen Klänge aus Daniel Kesslers Late-Sixties Epiphone Casino lassen einen das Album erst recht bei genauem Hinhören ans Herz wachsen. Dazu ein kleiner Tipp für Gitarren-Puristen: “Gran Hotel”. Der letzte Track “Go Easy (Palermo)” ist buchstäblich der am meisten relaxte Interpol Song jemals — und damit ebenfalls hörenswert. Textlich abstrahiert Paul Banks auf der Platte gewohnt schwierige Themen, diesmal vor allem die Kurzschlüsse des Informationszeitalters inklusive Fake News und Verschwörungsblasen. Diese werden nun defensiver, ja nachdenklicher transportiert als auf den Alben zuvor — eine weitere Änderung der Rezeptur.

Das siebte Album Interpols ist eine Post-Punk-LP, die auch zum Zurücklehnen taugt, und damit möglicherweise genau das, was es von der Band noch gebraucht hat. Alle diejenigen, denen der bisherige Sound zu scharfkantig war, werden in jedem Fall spätestens dieses Mal abgeholt. Alle anderen erfreuen sich an der Abwechslung im Interpol-Kosmos.

VÖ: 15. Juli 2022 via Matador Records