Text: Julian Tröndle, 03. Oktober 2022

Im Juli 2022 saß Kurt Wagner auf der Veranda seines Hauses in Nashville. Für eine Ausgabe der Radio-Show Bandcamp Weekly hatte er einige Tracks zusammengestellt, die er, während im Hintergrund Hunde und Zikaden laut das Ende eines heißen Tages beschallten, mit sonorer Stimme an- und abmoderierte. Viele hatten von dem 63-jährigen Alt-Country-Veteranen vermutlich einen historischen Abriss der Musikszene seiner Heimatstadt erwartet; doch die Playlist, die Wagner für den Anlass zusammengestellt hatte, bestand aus reinster Gegenwart; aus progressivem Rap, experimentellem Hardcore oder Neo-R&B. Der gesamten Pitchfork-Redaktion stand vermutlich vor Anerkennung der Mund weit offen.

Dieser Eingangsexkurs ist notwendig, um die Transformation von Lambchop nachvollziehen zu können, die nun, 2022, in der dritten Bestehensdekade des Projekts, im Album „The Bible“ mündet, welches Wagner vergangenes Jahr in einer stillgelegten Lackfabrik in Minneapolis aufnahm. Gestartet als Folk-Band mit dem Anspruch, den heimischen Nashville-Sound mit pietätvollem Traditionsbewusstsein zu aktualisieren, kann das Projekt heute kaum mehr als Band im engeren Sinne bezeichnet werden: Wagner ist derweil das einzig verbliebene Mitglied und nutzt Lambchop als variables Ventil für seine musikalischen Visionen. Lange hat es gedauert, bis dieser Wandel auch im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit ankam. Bis vor wenigen Jahren noch waren Wagner und seine Mitmusiker noch gern gesehene Gäste auf konservativ bespielten Festivals, wo sie im Wechsel mit Calexico regelmäßig ins Programm gebucht wurden, um eine „ambitioniertere Folk-Hörerschaft“ anzulocken.

Die avantgardistischen Meditationen auf „The Bible“ samt Schusswaffen-Samples („Whatever Mortal“), Autotune-Crooning („Police Dog Blues“) und forsch antwortenden Disco-Chören („Little Black Boxes“) würden dort mittlerweile aber wohl mehrheitlich für verwundertes Kopfschütteln sorgen – zumal sich das Album auch abseits dieser soundästhetischen Spielereien in keinster Weise um nachvollziehbare Songstrukturen bemüht. Nun ist es durchaus möglich, dass Wagner diese bürgerlichen Bühnen der deutschen Provinz insgeheim schon immer gehasst hat; offen bleibt indes, wo sich fortan stattdessen ein Publikum für seine künstlerische Selbstfindung finden soll. „It get’s edgier with time / no one’s edgier than I“, singt er überflüssigerweise im Opener von „The Bible“. Danke, Kurt – ich denke, wir haben begriffen.

VÖ: 30. September 2022 via City Slang