Text: Nico Beinke, 15. März 2021

Anspruchsvollen, experimentellen Pop zu kreieren, der einem gewissen künstlerischen Anspruch genügt, entspricht ganz sicher der Königsklasse des intelligenten Songwritings. Leider entpuppt sich dieses hehre Ziel zunehmend als eher undankbare Sisyphos-Aufgabe, denn der Pöbel gibt sich bekanntermaßen mit Radio-Pop von geldgeilen Produzenten für die immer gleichen Formate zufrieden. Für Künstler wie Jenny Rossander aus Kopenhagen bedeutet es ein völlig ungerechtfertigtes Nischendasein, eine künstlerische Diaspora, allerdings ist es ganz offensichtlich die einzige Art wie sie die Musik ihres Alias Lydmor vertreten kann, vor den geneigten Hörern (generischer Maskulinum!) wie vor sich selbst natürlich.

Eine Dreifaltigkeit aus drei Jennys, zugleich die drei großen Alternative-Pop-Diven Skandinaviens (Hval, Wilson und Rossander) eint die große Gabe die Zwangs-Gattung Electro Pop zu einer neuen Gefühlsebene zu verhelfen und dabei das Niveau von Pop generell anzuheben. Ist es zu viel gesagt, alle drei Interpretinnen feministisch zu nennen, oder vielleicht besser Frauenrechtlerinnen? Sicher nicht. Das popimmanente Patriarchat zeichnet sich derweil seit Jahrzehnten durch eine grenzdebile Stillstandsgläubigkeit aus, sodass wahrscheinlich nicht nur in mir der Wunsch erwachsen ist, diese reaktionäre und wohl vor allem monetär geprägte Herangehensweise möge den Herren der Schöpfung möglichst zeitnah gewaltig um die Ohren fliegen.

Das vorliegende „Capacity“ ist bereits Lydmors viertes Studio Album, bestehend aus immerhin 14 Songs, die in ihrer Heterogenität an Santogolds selbstbetiteltes Debüt von 2008 erinnern, dabei aber alle in ihren eigenen, jeweiligen Sound-Universen beheimatet sind und sich einfach nur untereinander recht unähnlich sind. Lydmor hetzt nicht innerhalb einzelner Songs durch die Pophistorie und überfrachtet sie dadurch schlimmstenfalls, sondern teilt ihre liebevoll inszenierten Reminiszenzen gerecht auf ihre 14 Babys auf. Einer Vogelmutter gleich: Schnäbelchen auf, ein bisschen Synthie-Schwelgerei à la Chairlift reingestopft und schon erstrahlt formvollendet „The Gadget Song“ in seinem schwelgerischen Glanze. „Diamond Breeze“ beginnt wie von den Army of Lovers künstlerisch wertvoll am Reißbrett konzipiert und gefällt vielleicht letztendlich nur mir dadurch, da ich die Army of Lovers immer heimlich geil fand – jetzt ist es raus. Denjenigen von euch, die nicht mehr wissen wer die Army of Lovers waren, gefällt der Song wahrscheinlich, weil er gut ist, und so soll es sein. „Someone We Used To Love“ bedient sich dem mittelspäten Meisterwerk-Beat der Chemical Brothers aus „Galvanize“, was kaum der Rede wert wäre, wenn diese nicht darauf hinauswollte, Rossander zu lobpreisen dafür, dass sie so gekonnt entlehnt, es also gar nicht auffällt und wenn doch, es einfach auch schnurzpiepwurscht ist.

Dem ganzen Zauber wohnt eine melancholische Note bei, die sich zwar ignorieren ließe, wenn an zehnter Stelle der Tracklist nicht Amandas Dream stünde, ein Spoken-Word-Horrorszenario wie es sich gewaschen hat. Amanda träumt jedenfalls ganz heftiges Zeug und jeder kann sich zwar Wünschen, dass es Frauenhass und die Angst der weißen Männer nicht geben würde, aber Rossander hält uns den gesellschaftlichen Spiegel vor und zwar an zehnter Stelle ihres Albums – es folgen also noch vier Songs. Ich möchte darauf hinaus, dass sie es an außergewöhnlich geschickter Stelle einbaut, der Hörer also aktiv werden müsste, um sich dem Ganzen zu entziehen. Somit lässt sich „Capacity“ nicht durchhören, ohne ein Gefühl der Beklemmung und der Betroffenheit beim Hörer auszulösen. Und dafür kann ich Jenny Rossander nicht hoch genug loben und ihr meinen Respekt bekunden.

18.11.2021 Hamburg – Nochtwache
04.12.2021 Köln – Artheater
06.12.2021 Berlin – Kantine am Berghain
07.12.2021 Frankfurt – Nachtleben

VÖ: 12. März 2021 via HFN Music