Text: David Maneke, 05. Mai 2022

Wenn es irgendwo eine designierte Schnittstelle für deutschsprachigen Diskurs-Indie gibt, dann hat sie Katharina Kollmann als Nichtseattle wohl gefunden. Da wäre zunächst der Umstand, dass Nichtseattles gerade erschienenes Album „Kommunistenlibido“ bei Staatsakt erschienen ist, unter ganz vielen anderen zum Beispiel auch Heimathafen von Isolation Berlin. Produziert wurde das Album von Olaf Opal, mit dessen Diskografie als Produzent man alleine schon eine Geschichte der deutschen Popmusik seit den 80ern schreiben könnte. Und dann wäre da natürlich der Name – Hände hoch und schämen, wer nicht spätestens jetzt den asymmetrischen Langhaar-Seitenscheitel des gitarrenspielenden jungen Dirk von Lowtzow vorm inneren Auge hat.

Man muss nach dieser Einführung nun nicht allzu viel Fantasie aufbringen, um zu antizipieren, in welchem Publikum Nichtseattle wohl verfängt. Diesen Referenzrahmen hier aufzumachen, ist trotzdem ein wenig irreführend, denn: musikalisch steht Nichtseattle viel zu eigenständig da, als dass man sie unbedingt in irgendeinen Vergleich einpassen muss. Charakteristisch an „Kommunistenlibido“ ist das ganz geschickt ineinandergefügte Zusammenspiel aus Text, Stimme und Gitarre; das sind Kollmanns Hauptinstrumente. Am Anfang der Songs steht eine klar formulierte Idee, hervorgebracht aus ebenjenen drei genannten Hauptinstrumenten, sorgsam aufeinander abgestimmt, ab und an mal durch etwas zurückgenommene Begleitung weiter arrangiert; die Gewichtung liegt ganz klar auf Stimme und Gitarre. Die Songs brauchen ihren Raum zum Atmen, der wird ihnen auch gegeben – das führt dann dazu, dass nur neun Songs knapp 50 Minuten brauchen.

Kollmanns Stimme wächst mit jedem Hören näher ans Herz. Deutsche Stimmen, insbesondere dann, wenn sie besonders schlau daherkommen wollen, klingen nur oft genug unerträglich. Bestenfalls betont gelangweilt, schlimmstenfalls wie eine sehr üble Kopie eines eh schon fragwürdigen Originals; Katharina Kollmann aber hat das seltene Talent, sowohl gehaucht als auch gerufen, auch poetisch kompliziertere Passagen mit einer Natürlichkeit vorzutragen, die für all die Dekaden der gesungen erzwungenen großen Geste im Deutschen (Diskurs-)Pop entschädigt. Die Stimme geht deshalb so unter die Haut, weil sie eben nicht überall perfekt ist; weil sie nicht versucht, irgendeine Ikone zu imitieren; weil sie niemandem beweisen will, wie großartig sie singen kann. Dadurch spiegelt die Stimme die Verletzlichkeit der Sängerin als Texterin, komplementiert das natürliche, weil karge, Arrangement. Musikalisch bietet „Kommunistenlibido“ von allem so viel wie gerade nötig, aber so wenig wie möglich.

„Kommunistenlibido“ ist atmosphärisch gar nicht so einfach zu greifen, denn es ist nicht einfach nur ein erzählendes Album. Wenn etwa im Hochhauslied eine Perspektive aufs triste Leben am Block geäußert wird, die ohne Sozialkitsch oder Gangster-Klischees auskommt, dann geht es immer noch mehr um den Akt der subjektiven Verarbeitung und wie er sich musikalisch inszeniert. Diese Selbstreferenzialität aber, und das kennen wir ja nur zu gut aus dem eingangs angeführten Referenzrahmen, ist auch künstlerische Identität. Denn einige der gedachten Vorgänger von Nichtseattle haben viel Energie darauf aufgewendet, musikalische und textliche Klischees des deutschen Mainstreams langsam und behände zu erodieren, einfache Stimmungsbilder sind in diesem Kontext reichlich kompromittiert worden. Stattdessen erscheint die Welt im gebrochenen Blick des reflektierten Künstlers, denn sie ist niemals nur a oder b. In dieses diffuse Licht taucht Nichtseattle auch ihre Welt ein, mit diesem herausfordernden Kleinod von Album namens „Kommunistenlibido“.

11.05.2022 Berlin – Schokoladen
13.05.2022 Chemnitz – Lokomov
14.05.2022 Leipzig – HuM
23.07.2022 Stuttgart – About Pop
30.07.2022 Eltville – Heimspiel Knyphausen

VÖ: 29. April 2022 via Staatsakt