Text: Lennard Göttner, 18. März 2022

Vielleicht war es eine übernatürliche Kraft oder höhere Gewalt, die diese vier Jungs aus London Mitte der 2000er fest in ihren teuflisch-unentrinnbaren Händen gehalten und zur ewigen Selbstzerstörungsshow animiert hat, vielleicht war es die weit entfernte Illusion eines gottgleichen Rock’n’Roll-Lebens. Wahrscheinlich war es letztlich lediglich der blanke Traum von vier Freigeistern, eine Rebellion anzuzetteln – gegen was auch immer. The Libertines waren wohl die letzte Bastion von verschwitzten und versifften Gitarren-Enthusiasten, denen man das Wütende und Exzessive, die unbändige Attitüde wirklich abnahm. Ein kometenhafter Aufstieg, den die vierköpfige Band 2002 mit „Up The Bracket“ begründeten und nur ein paar Jahre mindestens genauso legendär wie unrühmlich wieder in den Sand setzten.

In musikalischer Hinsicht waren die Libertines zu keinem Zeitpunkt ihrer Zusammenarbeit neu oder ansatzweise innovativ. Doch ein ungreifbarer großbritannischer Zeitgeist sorgte dafür, dass sie in kürzester Zeit zur größten Nummer seit Oasis und Blur avancierten. Sie waren jung, laut und dreckig. Und inmitten dieses unvorstellbaren Ruhms hatte die Band das große Glück, einen Sänger und Frontmann wie Peter Doherty zu haben, der so gut wie alle hier genannten und noch viele weitere Attribute bis zum absoluten Maximum in sich trug. Und wie es sich für wahre Rock’n’Roll-Stars gehört, sollten die Libertines 2004, zerbrochen an Streitereien und Dohertys immer unberechenbareren Drogenexzessen, bereits ihr vorerst letztes Konzert spielen.

Die gesamte Geschichte dieser berüchtigten wie erschreckenden Bandgeschichte lässt sich in diesen Zeilen nicht ansatzweise angemessen genug auserzählen. Doch das soll sie auch gar nicht. Denn heute ist Peter Doherty ein anderer Mensch. Nicht nur äußerlich ist er kaum noch wiederzuerkennen; Eskapaden und öffentliche Exzesse scheint er mittlerweile gänzlich hinter sich gelassen zu haben. Für dreckigen Rock’n’Roll und Reminiszenzen an seine wilden musikalischen Jahre mit den Libertines und Babyshambles scheint Doherty innerhalb seines eigenen Künstlerdaseins in diesen Tagen nur noch wenig übrig zu haben. Auch, weil der 43-Jährige für sein neuestes Projekt mit Frédéric Lo einen der wahrscheinlich versiertesten Musiker seiner Genration und im Grunde genommen das kolossale Gegenstück dreckigen Rock’n‘Rolls an seiner Seite hat.

Mit dem neuen Longplayer „The Fantasy Life Of Poetry & Crime” begründet der in Hexham geborene Doherty mit Unterstützung von Lo einen weiteren musikalischen Neuanfang. In seinem Wohnsitz in der Normandie residierend entwickelte das Musiker-Duo im Lockdown Melodie und Text für die insgesamt zwölf Songs. Das Album schwebt dabei in einer einzigartigen Sphäre, getragen von bedeutungsschweren Streicherarrangements, Dohertys eindringlichen Vocals und einem düster-expressionistischen Klangambiente. Die zunächst durchaus überraschend daherkommende und seltsam anmutende Zusammenarbeit von Doherty und Lo fasziniert dabei auf ganzer Linie. Mit Songs wie dem titelgebenden „The Fantasy Life Of Poetry & Crime”, “You Can’t Keep It From Me Forever” oder etwa „Yes I Wear A Mask“ und einer charmanten „Delivery“-Anspielung in „The Monster“ fügt Doherty seinem musikalischen Gesamtwerk ein hoch interessantes, professionelles und vor allem reifes Kapitel zu. Über die Zusammenarbeit mit Lo kann Doherty dabei nur schmunzeln:

Curiously, after 20 years of sustained intoxication, my own inner populace of demons and creative coalition were doing their own strange dance-off/war of attrition. A new balance of power was forming. A fragile state emerged in a detoxified land. Was this as a backdrop a man in a hat with a guitar on his back did appear in silhouette, high on a Normandy clifftop. I squinted in the late morning sun and put out a shaky hand.. “Mr Frederic Lo, I presume…

Zusammen mit seinen einstigen Libertines-Kollegen Carl Barât, John Hassall und Gary Powell tourte Doherty jüngst übrigens durch ganz England. Einstigen Konflikten und Streitigkeiten scheint Doherty damit genauso wie den Drogen nun endgültig Lebewohl gesagt zu haben. Good News für alle Fans und Hörer:innen: Für den 43-Jährigen scheint sich momentan einiges zum Guten zu entwickeln.

VÖ: 18. März 2022 via Strap Originals