Text: Stefan Killer, 29. März 2022

Placebo ist bekannt für grungy Gitarren, androgyne Ästhetik und einen Hang zu Perspektiven, die gewöhnlich ein Nischendasein fristen. Und auch, wenn diese Merkmale die vergangenen Jahre in den Hintergrund gerückt sind, blieben sich zumindest die beiden Gründungsmitglieder treu. Brian Molko und Stefan Olsdal verwehrten sich etwa jahrelang dem zeitgenössischen Synthi- und Drumcomputer-Sound und gaben mal poppigeren, mal experimentelleren Riffs den Vorzug – bis „Never Let Me Go“ zustande kam.

Und eines vorweg: Das ist gut so. Denn was die Band über einige Jahre studiotechnisch geliefert hat, war bestenfalls ein durchgestylter Abklatsch der ursprünglich groben wie bunt verzierten Klangidentität der Placebo-Anfänge. Die neue Synthi-Vielfalt steht Placebo. Bevor „Never Let Me Go“ aber entstehen konnte, entledigte sich die Band des mehrjährigen Behelfsschlagzeugers Steve Forrest und emotionalen Ballasts einer gefühlt niemals enden wollenden Best-of-Tournee. Um dieser Monotonie, dieser bandzerrüttenden Kommerzialisierung und „Langeweile“, wie Brian Molko den Dauerzustand während der Tour umschreibt, zu entfliehen und etwas Neues zu versuchen, drehte Placebo zunächst den Songwriting-Prozess um.

Erst das Bild, dann die Musik

Zuerst stand das Albumcover, dann folgten die 13 Titel. Und erst, als diese auf einer Liste standen, haben die beiden Gründungsmitglieder in Stefan Olsdals kleinem Londoner Studio begonnen, die Songs dazu zu schreiben. Entstanden sind sie unter anderem mit Drummachines, die auf der Platte aber letztendlich doch von den Gastschlagzeugern Matthew Lunn und Pietro Garrone abgelöst wurden. Der Opener „Forever Chemicals“ zeugt immer noch von den Beginnen mit der Drummachine, das Industrial-Intro prägt den gesamten Song.

„Beautiful James“ ist ein klassischer Placebo-Popper, der im Jahr 2022 dem Synthesizer genauso bedeutend eine Bühne gibt wie den Gitarren. Was an „Never Let Me Go“ besonders gefällt, ist die Besonnenheit in der Hinsicht: Auf dem Album findet sich kein Synthi um des Synthis Willen, auch wenn das sozusagen die Prämisse war. Brian Molko gab sich vor, auf jedem Song einen Synthesizer zu verwenden. Gesagt, getan. Aus dem Instrument wurde ein festes Werkzeug unter vielen im Studiokasten. „Happy Birthday in the Sky“ erinnert atmosphärisch und inhaltlich an das 2006er-Album „Meds“, die Songs „Surrounded by Spies“ und „Went Missing“ hätten so vermutlich sogar noch ein paar Jährchen früher auf „Sleeping with Ghosts“ (2003) ihren Platz gefunden.

Dem Zeitgeist trotzen

Als Anspiel-Tipps sind zusätzlich der unbestreitbar mahnende Hit des Albums, „Try Better Next Time“, und das melancholisch mitreißende Arpeggio-Synthirock-Stück „Sad White Reggae“ zu nennen. Und auch, wenn der Rest des Albums mutige Schritte aus der gewohnt alternativen Welt vermissen lässt, ist „Never Let Me Go“ das beste Placebo-Album seit den frühen 2000ern.

Brian Molko und Stefan Olsdal haben es geschafft, dem Zeitgeist zu trotzen und sich auf ihre Stärken zu konzentrieren, das Wesentliche, alternative Rockmusik für vielfältige Realitäten. Und doch ist die Gruppe nach all den Jahren nicht zu müde, Vertrautes mit ungewohnter Herangehensweise und Instrumentation neu aufzulegen. „Never Let Me Go“ ist ein beeindruckendes Zeugnis dessen, dass Bands auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert Bestehen immer noch ein Sprachrohr junger Generationen sein können.

01.10.2022 Frankfurt – Festhalle
04.10.2022 Stuttgart – Schleyerhalle
06.10.2022 Berlin – Mercedes Benz Arena
19.10.2022 Leipzig – Quarterback Immobilien Arena
22.10.2022 Hamburg – Barclaycard Arena
26.10.2022 München – Olympiahalle
29.10.2022 (CH) Zürich – Samsung Hall
02.11.2022 (AT) Wien – Stadthalle
07.11.2022 Köln – Lanxess Arena

VÖ: 25. März 2022 via SO Recordings