Text: Lennard Göttner, 18. November 2022

Wenn sich ein Künstler oder eine Künstlerin dazu entscheidet, ein neues Album herauszubringen, dann geht die Auswahl der Tracks vermutlich nie oder nur in den seltensten Fällen leicht von der Hand. Wenn sich ein Künstler oder eine Künstlerin in diesem Prozess darüber hinaus dazu entscheidet, einen – ja, tatsächlich – 41-minütigen Song als Opener für den Rest der Platte voranzustellen, dann ist es grundsätzlich bereits einmal eine Besonderheit, die Aufmerksamkeit verdient. Weil eine derartige Entscheidung in jedem Falle damit einhergeht, sich von sämtlichen konventionellen Strukturen wie kommerziellen Erwartungen zu verabschieden, ja sich von diesen gänzlich loszulösen, um der eigenen Kunst in diesem Kontext den größtmöglichen Raum zur Entfaltung zu geben. Das allein erfordert Respekt für Folk-Koryphäe Richard Dawson, der eben genau dies mit seinem neuesten Werk „The Ruby Cord“ tut. Fest steht jedoch auch, dass der Respekt für die Uneingeschränktheit des Künstler-Daseins leider nicht immer automatisch mit musikalischer Finesse und Relevanz einhergeht.

So gelingt es dem aus Newcastle stammenden Dawson mit seinem bereits siebten Longplayer zwar zweifellos, das Tor zu einer unwirklichen, ungreifbaren und deshalb in gewisser Weise auch grundsätzlich spannenden Traumwelt zu eröffnen – eine wahre Essenz und überhaupt ein Charakter dieses weitschweifigen Werks bleibt allerdings nicht nur im bereits erwähnten 41-minütigen Opener „The Hermit“, sondern leider auch im gesamten weiteren Verlauf des Albums verborgen. Das bedeutet nicht automatisch, dass „The Ruby Cord“ grundsätzlich nicht lohnenswert sein kann und keinerlei spannende Sequenzen beinhalten würde. Track Nummer Vier, „Museum“, etwa ist für sich betrachtet ein großartiges Stück, welches Dawsons Qualitäten mit Hinblick auf sein Songwriting einmal mehr pointiert unter Beweis stellt. Das Werk im Gesamten kommt allerdings schlichtweg so derart unzugänglich daher, dass es beinahe unmöglich erscheint, sich im Kontext bis zu diesen Momenten durchzukämpfen. Instrumental-Geplätscher und eigenwillige Vocal-Einlagen wechseln sich ununterbrochen, ja fast endlos, ab und an nicht nur einem Punkt innerhalb dieses Albums tut sich die Frage auf, was uns „The Ruby Cord“ eigentlich mitteilen möchte.

In der aktuellen Pressemitteilung wird sein neues Album als ein Ort beschrieben, „an dem man sich mit niemandem mehr auseinandersetzen muss außer mit sich selbst und seiner eigenen Vorstellungskraft.“ „The Ruby Cord“ soll uns also regelrecht dazu zwingen, in Dawsons eigene Welt einzutauchen, was per se keineswegs zu tadeln wäre. Doch damit das gelingt, muss der Schöpfer dieser Welt seine Besucher:innen zumindest ansatzweise an die Hand nehmen und gewisse Rahmenbedingungen schaffen, um ein Gefühl und Klima für seine Welt zu erzeugen. Auf „The Ruby Cord“ gelingt dies Dawson zu nahezu keinem einzigen Moment. Das Album fühlt sich in diesem Sinne wie der nicht gerade subtile Versuch des Briten an, besonders originell und in der Folge auch künstlerisch wertvoll zu wirken. Unterm Strich bleibt Dawsons Longplayer trotz oder gerade wegen seiner außergewöhnlichen Länge jedoch leider ziemlich belanglos.

VÖ: 18. November 2022 via Domino Recording