Text: Lennard Göttner, 09. Dezember 2022

Es gibt sie wahrhaftig, diese wenigen größten aller Songs. Und es lässt sich als eine wahrlich große Arbeit beschreiben, sich an den Stoff dieser angesprochenen, an vielleicht zwei Händen abzuzählenden, Stücke heranzuwagen. Denn Neuinterpretationen und Coverversionen leisten eine mehr als nur wichtige Arbeit innerhalb der Musikwelt: sie bauen Brücken. Über Genregrenzen hinaus können Künstler:innen in diesem Sinne eine gewaltige Kraft entwickeln. Diese Kunst, die Kunst des Coverns, ist auch der schwedischen Musikerin Victoria Bergsman alles andere als fremd. Die Taken By Trees-Sängerin hat diese schier gewaltige Herausforderung bereits vor knapp dreizehn Jahren mit einer einzigartigen Version eines dieser wenigen größten aller Songs bewerkstelligt. Begleitet vom Klavier sang sie 2008 von Kindheitserinnerungen, vom strahlend blauen Himmel und vom Donner und Regen und transponierte „Sweet Child O’Mine“ damit ganz nebenbei meisterhaft in die Folk-Musik.

Einem weiteren großen Stoff hat sich die Schwedin nun auch innerhalb ihrer neusten EP, „Another Year“, gewidmet. Das Projekt feiert den 50. Jahrestag des ersten Soloalbums Colin Blunstones, „One Year“. Über fünf Songs hinweg liefert die Taken By Trees-Sängerin eine Reihe von Neuinterpretationen ab, die zwar wiedererkennbar an Blunstones Originale erinnern, aber gleichzeitig auch ganz und gar Bergsmans eigene sind. Am Ende steht da ein durch und durch außergewöhnliches Werk, das nichts anderes als eine herausragende und emotionale Hommage an einen der Lieblingssänger Bergsmans und einen der größten britischen Rockmusiker aller Zeiten ist.

Das ist anders und riskant.

Als die 45-Jährige in den späten 1990er Jahren mit ihren The Concretes-Bandkollegen durch die Plattenläden dieser Welt stöberte, entdeckte sie Colin Blunstone erstmals als Künstler. Seitdem wurde ihre Kunst vom The Zombies-Gründungsmitglied entscheidend beeinflusst und Blunstone ist mittlerweile bereits seit langem ein fester Bestandteil innerhalb ihrer privaten Plattensammlung. Dass sie deshalb zunächst auch ein wenig zögerte, seine Lieder zu covern, ist keineswegs verwunderlich. „In der Vergangenheit habe ich mich immer dafür entschieden, Covers aufzunehmen, die mir nicht so sehr am Herzen liegen und zu denen ich keine große Verbindung habe, außer dass es sich um klassische, großartige Songs handelt, von denen ich das Gefühl hatte, dass ich etwas Eigenes daraus machen könnte“, erzählt die Schwedin.

Ja, das ist wahrlich anders. Die gesamte Cover-EP Bergsmans fühlt sich irgendwie anders an. Aber warum nur? Vermutlich liegt es daran, dass Blunstones Musik verglichen mit anderen Größen seiner Zeit schon immer so derart anders war und immer noch ist. Blunstone war nie ein Superstar, kein Held oder Gesicht einer Generation, und er hat sich zu keiner Zeit als solcher und solches identifiziert – auch wenn er vielleicht durchaus das gute Recht dazu gehabt hätte. Neben Namen wie James Taylor, Carole King oder Jim Croce war Blunstones bereits damals in vielerlei Hinsicht ein weitläufig unterschätzter. Und dennoch kann der 77-jährige Brite bereits auf ein Vermächtnis zurückblicken, das seinesgleichen sucht. „Seine Stimme ist so stark, aber gleichzeitig auch weich. Mir war nicht klar, wie schwer die Songs stimmlich waren, bis wir anfingen, sie zu proben und zu arrangieren. Er ist sehr hoch. Hoch oben und super tief und überall“, erzählt Bergsman.

Überall innerhalb der EP lässt sich auch das feine Gespür der Schwedin für originelle Arrangements wiederfinden. Mit ihrer Cover-EP meistert Bergsman den schmalsten aller Grate zwischen musikalischer Hommage und eigener origineller Kunst in vorbildlicher Weise. Diese fünf atemberaubenden Stücke sollen ein neues Publikum für die Musik von Blunstone erschließen. Für Bergsman ist die Musik des Briten zweifellos ein zeitloses Meisterwerk. „Another Year“ von Taken By Trees stellt das einmal mehr in jeder Pore der fünf Stücke unter Beweis. Was damit bleibt, ist Covermusik in ihrer schieren Perfektion.

VÖ: 09. Dezember 2022 via Rough Trade