Text: Nils Hartung, 19. Februar 2021

Als das letzte Tindertsicks-Album „No Treasure But Hope“ vor gut einem Jahr erschien, schien es, als hätten es sich die Band um Stuart A. Staples nun auf Langstrecke im wohlig warmen Kammerpop-Sound eingerichtet. Knarzig süße Slow-Burner sind seit den 90ern musikalische Identität der Engländer und den geneigten Hörer*innen ein sicherer Hafen fernab der extrovertierten Popkultur.

Derart verklärte Gewissheiten werden auf „Distractions“ mit einem Schlag eingerissen. Mit „Man Alone (Can’t Stop The Fading)“ gibt uns Staples gleich zu Beginn ein krautiges 11-Minuten-Brett zu bohren, das nur von einem kühlen Gerippe aus Bassline, Lo-Fi Beats und dünnen Synthie-Flächen zusammengehalten wird. Staples Gesang verdichtet sich zu einem unheilvollen Mantra, das bis zur Atemlosigkeit wiederholt wird. Mit „I Imagine You“ schwebt ein Hauch von vertrauter Tinderstick-Intimität vorbei, für die auf „Distractions“ allerdings kein Landeplatz vorgesehen ist. Der musikalische Dekonstruktivismus macht auch vor Altmeister Neil Young nicht Halt. Doch Staples ist kein Zerstörer, sondern Virtuose, der durch größtmöglichen Bruch mit dem Original die musikalische DNA eines Songs so minuziös herausarbeitet, dass dieser schließlich neue Klangspektren hinzugewinnt. So können „A Man Needs A Maid“ oder „You’ll have to scream louder” allenfalls auf dem Papier als Coverversionen bezeichnet werden. Im Kontext des Albums entwickeln sie ein ungeheures Eigenleben und klingen, als wären ursprünglich so radikal stripped-down erdacht worden.

Erst zum Ende dürfen sich in „The Bough Bends“ die spärlich vertretenen E-Gitarren zu einem langsam gipfelnden Befreiungsschlag aufbäumen, der irgendwann im Vogelgezwitscher eines neuen Tages verhallt. Tindersticks stiften auf „Distractions“ Verwirrungen an jeder Ecke. Das ist verstörend, vielschichtig und rundum ein großes Hörvergnügen.

VÖ: 19. Februar 2021 via City Slang