Text: Stefan Killer, 12. November 2021

Wer sich durch den Insta-Kanal von Idles wischt, könnte meinen, die fünf Postpunker seien der personifizierte Frohsinn. Neben diversen Kostümierungen reihen sich Luftsprünge mit E-Gitarre an sommerliche Ausflüge ins Planschbecken. Doch die manierliche Maskerade trügt seit nunmehr vier Alben in genauso vielen Jahren. Denn auch „Crawler“ ist ein Album, das tief im Bewusstsein des neuerdings singenden Sängers rumort – und jenem westlicher Kultur.

Was ist mit Joe Talbot während der Pandemie passiert? Im ersten Lebenszeichen seit dem Vorgängeralbum „Ultra Mono“ aus dem vergangenen Jahr, nimmt seine Stimme melodische Züge an. Was geht da vor sich, in „The Beachland Ballroom“, ehe Talbot gegen Ende wieder in alte Muster verfällt und „Damage, damage, damage“ brüllt? Offenbar was Neues.

Synthi und Prosa

Was ebenso neu ist auf Idles-Platte Nummer vier sind – typisch 2020er – sehr präsente Synthiklänge. Gleich zum Albumauftakt wird klar, selbst triphopesque Klänge finden ihren Weg in den Idles-Wahn. Gepaart mit angetäuschter Blues-Linie ergibt „MTT 420 RR“ eine fehlleitend gute Mischung. Genauso fehlleitend startet „Progress“, der Track, der gesanglich nicht krasser an Pophits der 1990er-Jahre erinnern könnte. Was das Gewohnte und die einleitenden Akustik-Saitenklänge darin packend zunichte macht, sind neue Töne: Zu Arpeggiator-Sounds erinnert sich ein hallgetränkter Joe Talbot:

As good as your grace was, I don’t wanna feel myself come down / Come, home, to / As heavy as my bones were, I don’t wanna feel myself get high / I, come, home, to

Doch keine Sorge, auf „Crawler“ kommen auch Idles der ersten Stunde zum Zug: „When the Lights Come On“ und „The New Sensation“ sind nicht das Ende der Regenbogenfahnenstange, die Songs lassen vielmehr das ursprüngliche Idles-Herz schneller schlagen.

Der tätowierte Ex-Stereotyp erzählt auf „Crawler“ unter anderem von seinen Gedanken, die er hatte, nachdem ein zweirädriger Straßenraudi mit 130 Sachen um ein Haar in seine Karre gejault wäre. Diese Erinnerungen sollen die logische Fortsetzung inklusiver Subkultur-Alben wie „Joy as an Act of Resistance“ und „Ultra Mono“ sein?

Pop abseits der Ordnung

Und ob. Idles beweisen mit „Crawler“, dass Pop immer noch das Zeug hat, ein mächtiges Sprachrohr der Kultur zu sein. Klischees, Intoleranz, Schwarz und Weiß katapultieren sich seit Jahrhunderten maskiert in den Alltag, doch sie spiegeln nicht die Realität wider.

Diese ist heute diverser, begrenzter, perverser, düsterer, schöner, asozialer, lauter denn je. Und zum Glück offener als im Insta-Kanal. Seit vier Alben liefert Idles den treffenden Soundtrack für diese Realität. Für alle anderen gilt die Sündenverkehrsordnung.

18.02.2022 Hamburg – Docks (ausverkauft)
22.02.2022 Berlin – Columbiahalle (ausverkauft)
23.02.2022 Köln – E-Work (ausverkauft)
24.02.2022 München – Muffathalle (ausverkauft)

VÖ: 12. November 2021 via Partisan Records