Text: Jan-Frederic Goltz, 24. August 2021

Man hätte es sich sehr einfach mit dieser Rezension machen können. Der Promo lag freundlicherweise ein Beipackzettel mit bereits vorformulierten Textbausteinen zur freien Verfügung bei. Ich zweifele an deren Ernsthaftigkeit, wenngleich auch großen Chance zugleich, immens viel Zeit geschenkt zu bekommen. Doch schlussendlich ist, so verrät uns bereits der Titel des Albums: „An Allem ist zu zweifeln“. Lassen wir also sämtliche Textvorschläge rund um die Hamburger Schule, den fragwürdigen Begriff Diskurspop, den Golden Pudel Club, ja sogar von Lana Del Rey war da die Rede, mal außen vor und fühlen uns stattdessen lieber an die letzte große Krise der Menschheit erinnert, die uns pünktlich zum Jahrtausendwechsel beschäftigte. Der Millenium-Bug.

Als es langsam hell wurde in jener Silvesternacht, der Magen (danach) noch verdorben vom vielen Oldesloer oder ich weiß nicht was ihr alles getrunken habt, blieben die Großrechner der kapitalistischen Banken und auch die heimischen PCs, der tatsächlich für ihr Geld arbeitenden Mitte der Gesellschaft, dunkel. Man hatte im Vorfeld ja damit gerechnet, ja sogar damit begonnen, irgendwie gegen anzusteuern. Ja, man hatte versucht das Problem zu lösen und zu eliminieren — doch die Masse der Endgeräte war einfach zu immens. Selbst die noch so winzig kleine Digitaluhr an unserem Handgelenk, war davon betroffen. Experten behaupteten später, man hätte sich ein weiteres Jahrtausend damit beschäftigen können. Prüfen, testen, prüfen, testen, nachbessern, wieder prüfen, usw. Es war eine Herkulesaufgabe. Alles recht mühselig, zu aufwendig und die Menschheit ist nun mal per se: faul und manchmal dann doch, dumm wie Brot. Wird schon schief gehen, sagte man sich. Wird schon. Alles wird gut. Stimmt, alles gut — die Atombomben blieben zum Glück aus.

Nachdem also die Uhren im wahrsten Sinne des Wortes zurück auf Null sprangen, schaute plötzlich alle Welt auf ein beschauliches Städtchen namens Braunschweig. Herrje, ausgerechnet Braunschweig. Nicht etwa New York oder Tokio, nee. Braunschweig. Der Ort, an dem die einzig verbleibende und verlässliche Quelle unserer aktuellen Zeitrechnung in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, in Form einer Atomuhr steht und bis dato tapfer den Takt für uns aufrechterhält. Egal ob Metropole oder Dorf, alles und jeder orientierten sich fortan an einer für sonst recht wenig bekannten Stadt in the middle of fucking Niedersachen.

Das hatte schon etwas von gen Mekka beten wenn man so will, wobei die Angelegenheit natürlich weniger religiös war. Doch jene Atomuhr, ja, so kann man sagen, wurde über Nacht plötzlich heilig gesprochen. Damals dachte man noch, die Menschen, all die armen Menschen müssen sich doch schließlich an etwas oder jemandem orientieren. Die brauchen Halt, die Opfer. Und sei es Gott oder die verdammte Zeit, das war schließlich schon immer so. Als es die sogenannte BILD Zeitung noch gab, titelte sie einige Jahre nach dem Vorfall (fälschlicherweise), in ihrer typischen Schlagzeilenmanier, es hätte einen globalen Anstieg der Suizidrate gegeben. Grund: psychische Insolvenz oder so. Was für ein Quatsch.

Schließlich war das genaue Gegenteil der Fall und die Zahl sank gen Null. Mich erinnerte die Schlagzeile an den Kommata-Fehler bei der Berechnung des Eisengehalts von Spinat. Eine Dezimalstelle und schwupp, Kinder quälten sich Jahrzehnte mit dem Löffel durch den grünen Schleim. Schade aber auch, um die Geschichte von Popeye dem Seemann. Irgendwie aber auch ein Beweis, dass Placebos scheinbar wirken. So schlimm der erste Schreck auch war, im Nachhinein ist es doch schließlich so: Ich, wir, ihr alle wurden, zugegeben, nach dem der erste Schreck vorbei war, deutlich entspannter. Findet ihr nich? Das Geböller in jener Silvesternacht fühlt sich auch Jahre später an, wie das Klicken und Klacken tausender kleiner Resetknöpfe über einem.

Man stelle sich also vor, was aus unserer Gesellschaft geworden wäre, wenn dieser prophezeite und unaufhaltsame Fortschritt durch Technik Einzug in unser neues Jahrtausend gehalten hätte. Alles und jeder wäre vernetzt, ja komplex vernetzt wie Spinnweben der Seidenspinnne Nephila in Neuguinea. Immer erreichbar, jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde, zu jeder noch so unmöglichen Uhrzeit. 24/7 — was wäre nur aus unseren Münzfernsprechern geworden? Wären sie etwa obsolet geworden? Das wäre ja fast so absurd wie das damals angedachte Verbot nicht mehr in öffentlichen Gebäuden oder im Flieger rauchen zu dürfen — ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie man sonst tragische Figuren in Filmen hätte darstellen sollen.

Ohne unsere Computer wurde übrigens auch das gen Mitte der 90er Jahre häufig auf Tonträger gesampelte Einwahlgeräusch, des seinerzeit doch recht weit verbreiteten 56k-Modems, schlagartig zum Relikt unserer modernen Informationstechnologie, die fortan nur noch in alten Fachzeitschriften Erwähnung fand. Oder auch: WAS IST WAS: Zukunft — 9,6 Mrd. Menschen sollen im Jahr 2050 unsere Erde bevölkern. Fliegende Autos, Roboter regieren die Welt! Na ja, von wegen Megacitys, nicht mal mehr der SEGA MegaDrive lief. Elektroschrott.

Wer hätte gedacht, dass dieses weltweite Großereignis — im Nachhinein betrachtet — ein wahrer Befreiungsschlag für Mensch, Natur und Tier sein würde? Unserer Welt wurde schließlich — oder zum Glück — eine Andere, als die, die uns die Prognosen und Trends der Zukunftsforscher*innen mit all ihren dystopischen Visionen prophezeiten. Stattdessen wurden wir wieder ehrlich und verbindlich miteinander. Ungekünstelt, ungeschminkt. Langsam. No need for Selbstoptimierung. Wir schrieben uns wieder Briefe mit der Hand, statt 160 Zeichen, die das Gegenüber auf billigen Matrixdisplays lesen musste. Ich frage mich tatsächlich immer noch oft, wie viele Neujahrswünsche wohl im Äther verreckt sind. Na zum Glück: Niemand musste mehr überlegen welche der 10 möglichen Nachrichten aus dem SIM-Karten-Speicher gelöscht werden soll. Ich fand das immer irre schwierig.

Eingemottete, analoge Technik wurde wieder entstaubt und für robust empfunden: Krisentauglich, krisensicher! Der Mondscheintarif wurde günstiger und hielt endlich was er versprach. Wir lernten wieder die Telefonnummern unserer Freunde inklusive Vorwahl auswendig, niemand sagte mehr urplötzlich ein Treffen ab und auch das Radio blieb modern. Schließlich wurde behauptet, Musik würde bald zu einem auf Knopfdruck immer verfügbaren Gut. Dabei frage ich mich — wie hätte man auf die sorgfältig kuratierte Liederwahl der Moderatorenschaft verzichten können? Das überlässt man doch lieber Experten. Unglaublich eigentlich, dass wir erst seit wenigen Jahren wieder in der Lage sind, technisch dort anzuknüpfen, wo wir zum Jahrtausendwechsel aufgehört haben. Im Vergleich dazu, ging der fortschrittliche Wandel aus dem Industriezeitalter rasant schnell. Bin sehr gespannt was uns mit dem Neuaufleben, der damals noch recht neuen Technik nun erwartet.

Als ich wieder aufwachte fragte ich mich Folgendes: Was hat das alles nur mit der eigentlich zu besprechenden Platte auf sich? Erinnerung is just a trick und zu meiner Verteidigung, möchte ich sagen — sorry Leute, ich war wohl Lost in Music. Diese Platte ist aus einer anderen Zeit oder anderem Raum, vereint so viel. Alles und Nichts. Angekommen im hier und jetzt, zurück aus der Zukunft. „Es geht um das Prinzip des Anzweifelns, nicht des Verzweifelns an der Welt.“ (DJ Patex)

26.08.2021 Berlin – Pop-Kultur Berlin
18.09.2021 Hamburg – Golden Pudel Club Open Air
22.-25.09.2021 Hamburg – Reeperbahn Festival
02.10.2021 Leipzig – Schauspiel
03.10.2021 Berlin – about blank

VÖ: 20. August 2021 via Misitunes