Text: Julian Tröndle, 21. Oktober 2022

Vor ungefähr 80 Jahren muss es eine Zeit gegeben haben, da hauchten Folk-Sänger:innen ihre Songs noch nicht im eigenen Schlafzimmer in Mac-Mikrofone; sie standen an Straßenecken und sangen um ihr Leben. Ihre Stimme war ein Medium, das sich gegen Gitarre und Fidel behaupten musste, um mit Geschichten zum Publikum durchzudringen. Der spätmoderne Folk-Musiker jedoch – nein, das Maskulinum ist hier ausnahmsweise kein generisches – hat sich es sich mit seinen technischen Vehikeln bequem im Heute eingerichtet. Elliott Smith, Sufjan Stevens und Will Oldham verdanken ihren Erfolg jedenfalls wohl mindestens ebenso sehr ihrer späten Geburt wie ihrem songwriterischen Vermögen.

Die Stimme des US-Musikers Mat Davidson, der seine Musik unter dem Künstlernamen Twain veröffentlicht, wirkt gegen die der genannten Kollegen daher zwangsläufig wie die eines verirrten Zeitreisenden. Anders als Smith, Stevens & Co. lotet seine Stimme nämlich virtuos und unerschrocken einen erstaunlichen Volumenbereich aus: Das Register leisester Intimität („A Kiss“) beherrscht er ebenso wie das laut zitternde Falsett („King of Fools“). Bezeichnenderweise ist Davidsons Stimme dann auch der Aspekt seiner Musik, an der sich die Adressat:innen meiner unermüdlich huldigenden Empfehlungen zu oft stoßen.

Sein neues Doppelalbum vermag diese Vorbehalte der an aktuelle Folk-Stimmen gewöhnten Hörer:innen womöglich auszuräumen. Denn während sich die Vorgänger mit ihren sperrigen Lo-Fi-Arrangements teils noch selbst im Weg standen, klingen die Songs auf „Noon“ mit ihren liebevoll detailverliebten Arrangements aus Fingerpicking, Holzbläsern und hallgetränktem Piano wie eine verschollene und wiederentdeckte 70s-Folk-Platte aus dem Umfeld von Linda Perhacs oder Judee Sill. Bleibt zu hoffen, dass ihm mit diesem sublimen Meisterwerk auch hierzulande endlich die Aufmerksamkeit widerfährt, die seine Musik unbedingt verdient – Stimme hin oder her.

VÖ: 21. Oktober 2022 via Keeled Scales