Text: David Maneke, 16. Juni 2022

Die texanische Hauptstadt Austin blickt auf eine lange Musikgeschichte zurück. In den frühen siebziger Jahren formierte sich hier eine Country-Gegenbewegung, die sich vom etablierten Nashville-Sound abwandte und einen Alternativ-Entwurf entwickelte. In diesen Nährboden hinein explodierte das kreative Potenzial der ansässigen Künstler:innen; in den folgenden Dekaden formierten sich einige der ikonischsten Bands des jüngeren Weird America (…Trail of dead, Explosions in the Sky und Voxtrot – um nur drei zu nennen) in der selbsternannten Live-Capital. Außerdem trafen sich dort in den späten Neunzigern auch Will Sheff und Jonathan Meiburg, zunächst um gemeinsam bei Okkervil River zu spielen und um kurz darauf Shearwater zu gründen, ursprünglich als eine Art Okkervil River-Spinoff für ruhigere Songs geplant. Mit den Jahren wuchs der Aufwand der beiden Bands stetig und so verließ Meiburg Okkervil River im Jahr 2008, ein Jahr später stieg Sheff wiederum bei Shearwater aus. Und auch wenn die beiden Bands spätestens seitdem formal voneinander getrennte, eigenständige Körperschaften darstellen, lässt sich die Verwandtschaft nicht übersehen. Auf dem kürzlich erschienenen Album „The Great Awakening“ wird das einmal mehr ersichtlich.

An dieser Stelle möchte ich einmal zu einer kurzen Kontemplation über den bereits oben erwähnten Begriff „(New) Weird America“ ausholen. Als klar abzugrenzende Rubrik taugt der nämlich nur sehr bedingt; anders als in den bis zur Versteinerung festgeschriebenen (und gleichzeitig durch immer neue Komposita ad absurdum geführten) etablierten „Genre“-Bezeichnungen, entfaltet der Begriff „Weird America“ erst dann Wirkung, wenn man über die aller offensichtlichsten musikalischen Erkennungszeichen hinweg sieht. Es ist viel mehr der Blick hinter die gesellschaftliche und musikalische Kulisse, die Suche nach Grautönen, Alternativentwürfen, verbunden mit mal etwas deutlicher sichtbarem, meist aber subtil formuliertem Distinktionsbedürfnis zu einem imaginiertem – in den aller seltensten Fällen als solchem bezeichneten – amerikanischen Mainstream, wie er sich sowohl in Kunst als auch im größeren gesellschaftlichen Rahmen abbildet. Vor allem lyrisch zeigt sich das, und hätte ich nur ein einziges Beispiel zur Verfügung, würde ich Okkervil Rivers Famous Tracheotomies anführen, in dem Will Sheff einen exemplarischen Streifzug durch die Musikgeschichte anhand von Luftröhrenschnitten antritt.

Und nun, um das klarzustellen: Wenn ich eine Verwandtschaft zwischen Shearwater und Okkervil River attestiere, dann ist damit nicht gemeint, dass sich die beiden Bands musikalisch allzu sehr gleichen – es ist viel mehr diese Suche nach den Grautönen, die sowohl Jonathan Meiburg als auch Will Sheff führen, was sie über Jahre hinweg womöglich auch zu exzellenten Partnern gemacht hat. In einem Interview skizzierte Sheff Meiburg konsequenterweise als den perfekten Sparringspartner. Musikalisch aber hebt sich Shearwater doch deutlich genug von Okkervil River ab.

Der Opener „Highgate“ beginnt standesgemäß mit getragenem Piano, entwickelt sich aber schnell zu cineastischer Größe – und das ist einer der wenigen Moment, in denen der enge Korridor verlassen wird, den Shearwater auf „The Great Awakening“ eigentlich austarieren. Denn in der Gesamtschau handelt es sich um ein getragenes Album, das seinen Reiz in seiner Detailversessenheit findet. Die Songs sind getragen, atmosphärisch, brauchen keine großen Reize um Interesse zu erzeugen. Gerade lebhaft genug, damit der Hörer keine Angst um einen Spannungsabriss haben muss, aber am großen Effekt zeigt man sich nicht interessiert. Den braucht es aber gar nicht, denn „The Great Awakening“ ist atmosphärisch trotzdem unglaublich dicht. Das ganze Album lässt den Hörer in einer diffusen Parallelwelt; die Stimmung ist nicht polarisiert, lässt nicht benennen, aber man kann alles um sich herum vergessen, wenn man es möchte – in manchen Momenten hat das Album fast schon eine hypnotische Qualität.

Und das macht „The Great Awakening“ zum perfekten Statusupdate des Weird America. Es gibt hier keinerlei Contemporaryness zu bestaunen. Viel mehr schöpfen Shearwater aus einem üppigen Fundus an Einflüssen und haben so das nächste große Kapitel einer langen, hochehrwürdigen, Tradition geschrieben.

VÖ: 10. Juni 2022 via Polyborus